Am wichtigsten für die Selbstwerdung ist die Expedition in alle Zonen des Geisteslebens. Das bedeutet: Nicht die Naturerkenntnis allein führt zur Entfaltung des Menschen, sondern viel eher die Aneignung der Geschichte. Nur der geschichtlich denkende und lebende Mensch kommt für die höhere Geistesentfaltung infrage. Auch hier hat sich Goethe prägnant geäußert: ‘Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft geben, / Bleib im Dunkel unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben.’ Hier berührt sich die im Faust konkretisierte Weltschau mit derjenigen von Hegel. Tatsächlich kann man dessen Phänomenologie des Geistes (1806) als einen Paralleltext zu Faust lesen. Denn auch der Philosoph beschreibt im Rahmen dessen, was er als Bewusstwerdung des ‘absoluten Geistes’ definiert, eine geschichtliche Odyssee, die alle Formen des Bewusstseins assimiliert, bis das ‘Subjekt der Geschichte’ in den Besitz seiner selbst gelangt.
—Josef Rattner