Im Abweisen äußerer Forderungen und Beeinflussungen entfaltet das Ich seine Eigenständigkeit

Gewiss kommt der Mensch zunächst als triebhaftes Wesen zur Welt, aber für Rank sind diese Antriebe weder schlecht noch böse. Es ist die Naturausstattung des Menschen, die sozialisiert und kultiviert werden soll. Aber das eigentlich Menschliche ist nicht der Trieb, sondern der ‘Geist’. Er hat die Aspekte der Freiheit, des Bewusstseins und des Wollens. Es ist nach Rank verfehlt, einen Gegensatz zwischen Natur und Geist zu stipulieren. Auch das Geistige gehört zur ‘menschlichen Natur’, und seine Kräfte können aus der Vitalschicht gespeist werden.

Wille und Bewusstsein ergänzen einander. Durch beide Wesenskräfte gewinnt der Mensch eine relative Unabhängigkeit vom triebhaften Sein. Bewusstsein als Selbstbewusstsein kann hypertrophieren und damit ‘willenslähmend’ wirken. Vor allem in der Neurose erblickt Rank eine übersteigerte Selbstbeobachtung, die eventuell das Handeln blockiert.

Rank hält es für eine wichtige Leistung, dass er den ‘Willen’ in die Tiefenpsychologie eingeführt hat. Sowohl Freud als auch Adler hätten die Willensthematik vernachlässigt. Für die überlieferten Religionen bedeutete das Wollen sogar meistens ‘Sünde’. Der Eigenwille des Menschen wurde verteufelt, aber gerade er ist für die Persönlichkeitsbildung von zentralem Wert.

Beim Gedanken an eine ‘Willenspsychologie’ wird man unwillkürlich an Schopenhauer und Nietzsche erinnert, die beide in ihren Philosophien das Willensmoment stark betonten. Aber bei Schopenhauer handelt es sich um einen dumpfen, vitalen Drang, den der Philosoph sehr pessimistisch ausmalt und den er folgerichtig auch mit der Schulderfahrung notwendigerweise verknüpft. Nietzsche mit seinem ‘Willen zur Macht’ zeichnete ein freundlicheres Bild der Willenskräfte. An ihn kann sich Rank ohne weiteres anschließen, da auch er für die Rechtfertigung des Wollens eintritt. Nur der erkrankte Wille, den man durch Pädagogik und soziale Einschränkungen verstümmelt hat, ist eine destruktive Kraft; würden wir das Wollen der Menschen von Jugend auf respektieren und ermutigen, dann wäre dieses schöpferisch und gut.

Es liegt irgendwie im Wesen aller bisherigen Gesellschaften, dass sie dem Willen des Menschen offen oder geheim einen unbarmherzigen Kampf angesagt haben. Der Mensch soll nicht wollen, was ‘er’ will, sondern was seine Eltern, der Staat, die Kirche, seine Gesellschaftsschicht usw. wollen. So kommt es dazu, dass fast jedermann bei Willensimpulsen immer auch Schuldgefühle empfindet. Es entsteht Uneinigkeit und Zwietracht innerhalb des Ich, das geschwächt aus solchen inneren Dissonanzen hervorgeht. Allerdings kann der Wille erstarken, wenn er sich tapfer mit der ihm zugrundeliegenden Triebhaftigkeit und mit der uns umgebenden Gesellschaft auseinandersetzt. Es muss aber zuerst ein ‘Nein!’ gewagt werden, bevor sich die Sphäre der Bejahung auftut. Im Abweisen äußerer Forderungen und Beeinflussungen entfaltet das Ich seine Eigenständigkeit. Dann kann und soll es ein ‘Ich-Ideal’ schaffen, das ihm den Weg zur Autonomie weist.

—Josef Rattner

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